
Ich wurde in ein kreatives Umfeld hineingeboren. Mein Großvater hatte eine große Liebe zur Typografie und zur 3D-Fotografie, und mein Vater hat seine Kreativität geerbt. Als Grafikdesigner und Künstler hatte er ein eigenes Atelier, in das ich mich oft zurückzog, um zu spielen. Auch meine Mutter ist kunst- und handwerksbegeistert. Ihr Vater brachte seine Kreativität als Schreiner und Musiker zum Ausdruck. Ich selbst habe ebenfalls eine Ausbildung in klassischer Musik genossen, wollte beruflich aber nie etwas anderes machen als Grafikdesign. Nach der Schule begann ich daher eine gerade neu eingeführte Ausbildung zur Mediengestalterin in einer Frankfurter Agentur, die auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistete. Dort konnte ich sofort an echten Projekten mitarbeiten. Diese praktische Erfahrung hat mich dazu inspiriert, Kommunikationsdesign in Mainz und an der Plymouth University in Exeter zu studieren.
Zuerst muss ich verstehen, was kommuniziert werden soll. Hierfür hilft Recherche. Dann kommt die Intuition ins Spiel. Oft arbeite ich (unbewusst) gegen aktuelle Trends. Ein gutes Kunstwerk oder Design muss auf irgendeine Weise Aufmerksamkeit erregen: Es muss unterhaltsam sein, überraschend oder andere Elemente still unterstützen. Ich mag es, Handarbeit mit digitalen Tools zu kombinieren. Auf den ersten Blick bemerkt man das gar nicht immer – umso mehr bewundere ich Arbeiten, die diesen Ansatz verfolgen. Ich möchte mehr auf diese Weise gestalten, denn ich bin ein großer Fan davon, Elemente aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen.
„Wenn man sich einmal für Typografie begeistert hat, gibt es nur noch einen Weg: tiefer hinein. Es gibt kein Zurück.“ Sina Otto
Als Teenager interessierte ich mich für Graffiti und die Schrift auf Plattencovern. Während meiner Ausbildung zur Mediengestalterin und in der Berufsschule habe ich Kataloge und Flyer gesetzt und Mikrotypografie gelernt. Eine meiner Aufgaben in der Agentur war es, Schriften mit all ihren verschiedenen Schnitten auf einzelnen Seiten auszudrucken, und ich war fasziniert davon, wie viele Ordner sich damit füllen ließen – die meisten waren Linotypes. In England lag mein Schwerpunkt dann auf Schrift. Das ebnete meinen weiteren Weg in den Bereichen Branding, Editorial Design und Art Direction. Außerdem habe ich Schriftgestaltung bei dem niederländischen Schriftgestalter Lucas de Groot studiert. Wenn man sich einmal für Typografie begeistert hat, gibt es nur noch einen Weg: tiefer hinein. Es gibt kein Zurück.
In meiner täglichen Arbeit spielt KI eine eher untergeordnete Rolle. Ich arbeite nur selten gezielt mit KI-Software. Sie ist allerdings oft unsichtbar am Werk. Beispielsweise läuft beim Durchsuchen unserer Monotype-Fonts-Bibliothek eine KI im Hintergrund, die sehr hilfreiche Empfehlungen liefert. Trotzdem muss man wissen, wonach man sucht: Man muss eine Richtung haben, um die Ergebnisse bewerten zu können. Ich unterstütze auch die KI-Teams bei Monotype, indem ich neue Entwicklungen beurteile – das macht mir Spaß. Im Rahmen von Human Types habe ich mit Midjourney und Adobe Firefly experimentiert. Außerdem habe ich an einem Workshop teilgenommen, in dem wir mit einem Modell gearbeitet haben, das basierend auf Prompts Buchstaben als Bilder generiert, die anschließend vektorisiert und zu einem Font zusammengefügt wurden. Ich verfolge auch die Entwicklungen in anderen Bereichen mit großem Interesse.
Herstellen einer Verbindung zwischen KI und dem menschlichen Auge.
„Ich bin kreativ, ich bin menschlich“ von Sina Otto + KI.
Ich habe etwas kreiert, das KI nicht generieren, sondern nur verfremden oder verfeinern kann. Die Form ist für KI völlig unleserlich, nur für Menschen verständlich. Die Visualisierung besteht aus mehreren Schichten und lässt verschiedene Interpretationen zu. Mich interessierte vor allem die Frage, wo KI gemessen am Menschen aktuell steht bzw. was wir (noch) als genuin menschlich betrachten. Mein Ausgangspunkt war die Idee von KI als einem Echo menschlicher Kreativität: KI kann unseren Input spiegeln und verstärken, ihn auf unterschiedliche Weise replizieren – aber die Ergebnisse sind immer nur eine Reflektion unserer eigenen Kreativität und haben ihren Ursprung nie in der KI selbst. Dieses Echo (die KI) ist also vollständig auf das Ausgangssignal (den menschlichen Input) angewiesen, um überhaupt zu existieren.
Mein Ansatz mit der Formulierung „I am … I am human“ – gesetzt wie ein Echo – zielte darauf ab, die Essenz unseres Menschseins zu definieren. Es sind Sätze, die eine KI niemals eigenständig generieren würde. Sie sind kraftvolle, im Präsens formulierte persönliche Aussagen, die das Selbstbewusstsein stärken – fast wie ein Gebet.
Visuell habe ich eine Alternative integriert, die dem Echo sehr nahekommt: eine Kreiswelle, die entsteht, wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Diese Metapher soll veranschaulichen, wie sich Ideen und Gefühle ausbreiten und wie KI den ursprünglichen Input transformiert. Was daraus entsteht, ist oft „größer“ als der erste Impuls – und manchmal ist die ursprüngliche Idee gar nicht mehr erkennbar. Die Visualisierungen von Gehirn und Herz symbolisieren die Dualität von Gefühl und Vernunft. In diesem Sinne bringt der Mensch die ursprüngliche Essenz ein, die KI verstärkt, erweitert oder transformiert. Sie bleibt dabei jedoch immer einen Schritt vom Ursprung menschlicher Ideen und Emotionen entfernt.
„Dieser Prozess hat mir sehr viel bedeutet. Je mehr ich über KI lernte, umso mehr wurde ich mir meiner eigenen Menschlichkeit bewusst.“ Sina Otto
Handgemachte Schriftgestaltung von Sina Otto.
Weiterentwicklung der symbolischen Form zu einer tiefgreifenden Verbindung.
Dieser Prozess hat mir sehr viel bedeutet. Je mehr ich über KI lernte, umso mehr wurde ich mir meiner eigenen Menschlichkeit bewusst. Im Laufe des Projekts habe ich ein großes Spektrum verschiedener Emotionen durchlebt: Begeisterung für das Thema, das Ringen mit Ideenlosigkeit, das Gefühl zu scheitern, Momente der Verbindung mit anderen Menschen, Experimentieren, den Zustand des kreativen Flows, Momente der Freude, aber auch der Selbstkritik – und schließlich Erleichterung und große Dankbarkeit dafür, an diesem Projekt arbeiten zu dürfen.
“Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es Menschen sind, die KI-Modelle darauf trainieren, so zu werden wie wir – oder wie die beste Version von uns selbst, was auch immer das heißen mag. Vielleicht ist genau das der Punkt: Wir versuchen, perfekt funktionierende Maschinen zu erschaffen, während die Essenz unserer Menschlichkeit doch eigentlich in unserer Unvollkommenheit besteht. Daher haben wir inzwischen damit begonnen, KI bewusst auf Unvollkommenheit zu trainieren, insbesondere in künstlerischen Bereichen. Die Fehler (oder Überraschungen), die KI erzeugt, können wir nutzen, um gemeinsam mit unseren eigenen Unvollkommenheiten etwas Einzigartiges zu schaffen. KI liefert Vorschläge, und wir treffen die Entscheidungen. Wir müssen dafür aber weiterhin wissen, was eine gute Wahl ausmacht und wie wir kuratieren. Bildung, Erfahrung und der Austausch mit anderen sind dabei wichtiger denn je.
Besonders interessant sind die Variationen, die KI während des Prozesses bietet und aus denen wir wählen können, um die Arbeit weiter zu formen. In gewisser Weise gestalten wir gemeinsam.
“Bereits 1999 sprach David Bowie über die Ambivalenz des Internets: „Die Wechselwirkung zwischen Nutzer und Anbieter wird sehr harmonisch sein … Ich glaube, das Potenzial, das das Internet für die Gesellschaft bereithält – im Guten wie im Schlechten – ist unvorstellbar.“ Heute stehen wir am Beginn einer weiteren neuen Ära, diesmal mit KI – und wir dürfen die Schattenseiten nicht ignorieren. Ein großes Problem ist der Energieverbrauch. Wir müssen mehr nachhaltige und umweltfreundliche Lösungen entwickeln.
Wenn wir die Sache richtig angehen und nicht auf schnelle, oberflächliche Lösungen hereinfallen, gibt es eine gute Nachricht: Kreativität wird noch wichtiger werden, da technische Fertigkeiten durch KI zunehmend in den Hintergrund treten. Dank dieser Entwicklung können wir mehr Zeit darauf verwenden, neue Ideen zu schaffen. Auf der Ausgangsbasis durchdachter und handwerklich gut ausgearbeiteter Ansätze können daraus wirklich außergewöhnliche Ergebnisse entstehen. KI fordert uns heraus zu definieren, was uns als Menschen einzigartig macht – nicht indem sie unsere Kreativität ersetzt, sondern indem sie sie verstärkt. Sie bietet uns die Möglichkeit, neue Ausdrucksformen zu entdecken. Gemeinsam mit KI gestalten wir nicht nur Buchstaben – wir gestalten neue Sprachen des Ausdrucks. Um noch einmal Bowie zu zitieren: „Die Zukunft gehört denen, die sie kommen hören.“ Wenn wir bereit sind für den Wandel, können wir ihn mitgestalten – und damit auch die Zukunft. ”
Type Trends 2025. Neues aus Typografie und Schrift, vom Monotype Studio.